Eine Dreiviertelstunde dauerte der Militäraufmarsch zum 40. Republikgeburtstag der DDR am 7. Oktober 1989. Sie hüllte die Karl-Marx-Allee zeitweise in eine beißende Abgaswolke. Erich Honecker grüßte, die treuen Untertanen schwenkten Fähnchen, Genosse Michail Gorbatschow blätterte gelangweilt im Programmheft.
Es war die letzte Parade auf der wichtigsten Paradestrecke der DDR. Hinter der fröhlichen Fassade gärte schon der kommende Volksaufstand.
Wo die Tribüne mit den höchsten Amtsträgern der Republik stand, wachsen heute Eiben und Koniferen. Weiter hinten stehen Bäume, die vielleicht so alt sind wie die Wiedervereinigung. Sie verdecken die Sicht in den Innenhof. Die Karl-Marx-Allee ist eigentlich keine Straße. Sie ist eine Ausdehnung, eine Weitung, breiter als jede Autobahn. Die Baustelle mittendrin wirkt wie eine tektonische Spalte, an der beide Seiten der Allee voneinander wegdriften. Der Sonnenschatten der Westblöcke erreicht selten die unteren Etagen auf der Ostseite. Mit einer Spannbreite von 125 Metern hat die Allee ideale Aufmarschmaße.
Die Straße besteht aus einem älteren Teil, östlich des Strausberger Platzes, der zusammen mit der Stalinallee (heute Frankfurter Allee) geplant und gebaut wurde, im westlichen Teil bis zum Alexanderplatz reichte das Geld nur für kantige Zehngeschosser, die in den 60er Jahren emporwuchsen.
An hohen Festtagen des DDR-Sozialismus, 1. Mai und 7. Oktober, marschierte das Volk mal in Zivil, mal in Uniform an seiner Führung vorbei. So direkt kam man sonst kaum zusammen. Losungen auf den Transparenten zum 1. Mai wurden zentral von der SED beschlossen. Eigeninitiative beschränkte sich auf das Schwenken von Winkelementen. In der Karl-Marx-Allee, so lautet ein verbreitetes Vorurteil, wohnten vor allem „Kader“, also Leute, die im weiteren Sinne selbst zur Führung gehörten.
Dem möchte Helmut K., 80 Jahre alt, ehemals wissenschaftlicher Mitarbeiter, nicht widersprechen. „Es hatten aber auch Bauarbeiter der Stalinallee hier ihre Wohnung. Das war schon gemischt.“ Eine ältere Frau erzählt von einem stellvertretenden Minister, der hier gewohnt habe, „auf zweieinhalb Zimmern“.
Helmut K. hat die Paraden natürlich miterlebt, aber das „Säbelrasseln“ sei ihm schon damals unangenehm gewesen. Wegen der intensiven Bewachung habe er Schwierigkeiten gehabt, in die eigene Wohnung zu kommen. Und dann der Lärm! „Das fing schon drei Tage vorher an, da wurde geprobt“. Um den Fahnenschmuck an den Balkonbrüstungen musste er sich nicht selber kümmern. Da kam die Feuerwehr vorbei.
Die Balkone sind noch original DDR. Die Fassade wurde gedämmt und mit neuen Kacheln verkleidet. Auch drinnen sei vieles renoviert worden, erzählen die Bewohner. Verantwortlich zeichnet die „Wohnungsbaugenossenschaft Solidarität“. Hinter einem der Blöcke spaziert eine ältere Frau – weiße Haare, hellgraue Jacke, grünes Halstuch. Sie sei im Vorstand der Volkssolidarität und vermisst in der heutigen Zeit vieles, was es früher in der DDR gab: Gemeinschaft im Haus und auf der „Dienststelle“, Sauberkeit, Höflichkeit. Die „vielen Ausländer“, die jetzt im Haus wohnten, würden sich nicht mal vorstellen. Die Parade, nun ja, „da ist man eben mitjelatscht“ oder „mitjestanden“, im Kollektiv, habe sich nett unterhalten und danach „zusammen ein Bierchen getrunken“.
Viele Ältere, die hier wohnen, denken so. „Die DDR war gar nicht so schlimm“, sagt eine Frau in gold gestreifter Bluse, die gerade vom „Haus der Gesundheit“, dem einzigen Altbau in der Straße, kommt. Vor allem sicherer und humaner sei es damals zugegangen. Und die Militärparade? „Na, das war die Nationale Volksarmee, die musste sich ja auch mal blicken lassen.“